Zurück ins eigene Glück

Corinne Cattin Brischoux geht es wie vielen Menschen mit psychosomatischen Krankheiten: Sie leidet und wirkt doch auf den ersten Blick nicht krank. Langsam findet sie wieder zu sich. Doch das musste sie erst lernen.

Corinne Cattin Brischoux verliert bei- nahe das Gleichgewicht, so aufge- regt ist sie. «Mach ein Foto. Das werden meine Kinder nie glauben.» Das Smart- phone wird geholt, ein Foto geschossen, dann gibt Therapeut Nicolas Reverchon wieder den Rhythmus vor: «Konzent- rieren Sie sich. Einatmen. Ausatmen.» Corinne Cattin Brischoux, die noch nie in ihrem Leben geklettert ist, sucht nach dem nächsten Griff an der Kletter- wand. Nicolas Reverchon stellt sich hinter sie, bereit, einen Sturz abzufan- gen. «Wir wollen eine eigene Lösung entwickeln», leitet er sie an. Eine eigene Lösung entwickeln – das hat Corinne Cattin Brischoux in Montana gelernt. Doch der Reihe nach.

Die Verantwortung, glücklich zu sein

Wenn Corinne Cattin Brischoux ihre Geschichte erzählt, redet sie schnell und ohne Rast. Sie will, dass man ihr Leiden versteht. Schon zwei Mal war sie in der Berner Klinik Montana: 2013 und 2016, zur psychosomatischen Rehabili- tation. Sie plagen chronische Schmer- zen, die sich nicht verorten lassen. Und doch sind sie da, jeden Tag. Am Anfang ihrer Krankheitsgeschichte steht jedoch nicht sie selbst, sondern ihr ältester Sohn Jules. 2006 wird bei ihm Schizo- phrenie diagnostiziert, eine schwere psychische Krankheit mit ungewissem Verlauf. Corinne Cattin Brischoux und ihre Familie kämpfen mit ihm. Für ihn. Heute, zehn Jahre später, kann Jules mit seiner Krankheit leben. Doch die vierfache Mutter nicht mit ihrer.

Bald verliert sie ihren Job als Sekretä- rin. «Ich schlafe 14 Stunden pro Tag. Manchmal auch 18. Denn wenn man schläft, hat man keine Schmerzen», sagt sie. Ein Leben im Zeichen des Schmerzes, ein Alltag, der keiner ist. Zu ihrem ersten Aufenthalt in der Berner Klinik Montana schickt sie ihr Hausarzt, zum zweiten das Schmerzzent- rum des Berner Inselspitals. Beim zwei-ten Mal fasst sie einen Entschluss: «Es ist meine Verantwortung, glücklich zu sein.» Das habe sie gelernt, hier, weit weg von Moutier, ihrem Zuhause. Hier, wo die Pflegerinnen zwar für einen da seien, man aber auch zu ihnen gehen müsse, wenn man etwas wolle.

Bewegen und entspannen

Corinne Cattin Brischoux betritt das Bad der Klinik. Es ist warm, von links klingt Musik. Dort leitet ein Physiothe- rapeut eine Patientengruppe an, die sich zum Takt Bälle hin- und herwirft. Corinne Cattin Brischoux lacht ihm zu. Man kennt sich. Während die Gruppe weiter übt, begibt sich Corinne Cattin Brischoux ins Thermo-Spa. Die Thera- pie-Assistentin hilft ihr auf die Liege und erklärt kurz das Programm. Dann verlässt sie den Raum. Der Thermo-Spa gehört zu den passiven Therapien, die der Entspannung dienen und dadurch der Schmerzlinderung.

Später ist Corinne Cattin Brischoux noch einmal im Wasser, dieses Mal im Gehbad. Sie hat sich selber mit Schwimmhilfen versorgt und macht mit fünf anderen Teilnehmerinnen ei- genständig ihre Übungen. Ist sie eine Sportlerin? «Um Gottes willen, nein!», winkt sie mit einer triefenden Hand ab. Doch hier in der Klinik sei Bewegung eben Programm. Natürlich wisse sie, dass ihr Bewegung auch zuhause gut täte. Doch dort hole sie eben der Alltag ein – für Sport kein Bedarf. Was ist mit der Pflicht, glücklich zu sein, von der sie geredet hat? Sie erklärt: «Ich weiss eigentlich alles.» Dank der Reha wisse sie, wie sie sich selber helfen müsse, um sich nicht vom Schmerz einschränken zu lassen. Und doch ist der Schmerz ihr Begleiter geblieben.

Im Kopf ein Wald mit See

Szenenwechsel. Corinne Cattin Brischoux sitzt im Büro von Christophe Rieder, der an zwei ihrer Finger Sensoren befestigt. Diese messen die Oberflächenspannung der Haut und somit An- und Entspannung. Bio-Feedback nennt sich diese Methode. Sie hilft, zu beobachten, wie der eigene Körper im Gespräch reagiert. Corinne Cattin Brischoux schliesst die Augen, um sich nicht von der Kurve auf dem Bildschirm beeinflussen zu lassen, während Christophe Rieder das Gespräch beginnt. Sie solle ein- und ausatmen, schlägt er vor. «Denken Sie an Ihr Bild.» Nur Corinne Cattin Brischoux kennt dieses Bild: Ein See im Wald, vom Wind durchkämmt. Sie hat es in Montana erfunden. Immer wieder ruft sie es hervor, um zu entspannen. Die Kurve sinkt langsam, ein gutes Zeichen.

Kennt Corinne Cattin Brischoux ihren Körper heute besser? «Ja. Er ist ein Ar- beitsinstrument.» Auch das hat sie ge- lernt: mit dem Körper arbeiten, aktiv. Sie erinnert sich an ihren ersten Klinik- eintritt vor vier Jahren, an die Tai-Chi-Gruppe. Ihr seien auf einmal die Tränen gekommen. «Ich habe mir gedacht: was mache ich hier?» Das sei nicht sie gewe- sen. Sie, die keine Ruhe findet, immer redet, immer scherzt. Doch mittlerweile macht sie mit, wenn es um Entspan- nung geht. Und sie will wieder nach Montana: «Jedes Mal, wenn ich hierher- komme, sehe ich, dass etwas verändert, etwas investiert wurde.»

Farben und Tränen

Im Atelier wird Corinne Cattin Brischoux freudig begrüsst. Inmitten von Holz- stühlen, Leinwänden und farbgetünch- ten Arbeitsflächen nimmt Kunstthera- peutin Nadine Arlettaz ihre Patientin auf und bespricht sogleich die Maltechnik der heutigen Sitzung. Nadine Arlettaz befestigt einen Bogen Papier an der Wand; Corinne Cattin Brischoux wählt vier Farbtuben. Sie holt aus und schleu- dert die Farben an die Wand. Keuchend erzählt sie. Oft sei sie alleine hierherge- kommen, die Türen stünden ja immer offen. Die stärksten Momente habe sie aber in der Gruppe erlebt. Da seien sie meist zu viert gewesen, hätten erst über den Klinikalltag geredet, über das Essen, die Pflege, bis die Themen immer tiefer geworden seien. «Und irgendwann hat immer jemand geweint.»

Nadine Arlettaz erklärt: Sie lasse die Patientinnen und Patienten selber ar- beiten und stelle nur Fragen. Interpre- tieren würde sie nie. Die Patientinnen und Patienten öffneten sich von selbst und kämen dabei auch schon einmal an ihre Grenzen. Sie betrachte das als Chance. «Denn wenn eine Therapie immer nur locker ist, bringt sie nichts.» Ausserdem wisse sie, wie man die Leute wieder herunterholt. Im Hinter- grund hat Corinne Cattin Brischoux zum Pinsel gegriffen. «Das hier ist mein Leben. Ich gehe und gehe, will immer weiter», sagt sie, grosse Bogen ziehend. «Und das sind die Anderen.» Sie verteilt Farbtupfer. «Mit denen streite ich, dis- kutiere.» Sie hält inne, lehnt sich ganz nah ans Papier. «Und das hier in der Mitte, das ist mein Sohn Jules.»

Das erste Mal in der Luft

Und schliesslich steht Corinne Cattin Brischoux mit Nicolas Reverchon im grossen Saal, nicht ahnend, dass sie gleich zum ersten Mal klettern wird. Wenig später tastet sie die Griffe der Wand ab. Sie sucht Halt mit ihrem Fuss, findet ihn. «Immer gut atmen», meint Nicolas Reverchon ruhig. Corinne Cattin Brischoux klettert fast fünfzehn Mi- nuten lang. Am Ende ist sie erschöpft. Sie habe sich an der Kletterwand etwas überfordert, sagt Nicolas Reverchon später. Doch genau das sei das Ziel gewesen, denn nur so könne sie ihre Grenzen ausloten und vielleicht sogar verschieben.

Corinne Cattin Brischoux nimmt einen grossen Schluck aus der Wasserflasche. Hat sie nie geglaubt, verrückt zu wer- den, sie, der man den Schmerz nicht ansieht? «Doch, sehr oft sogar.» Aber sie habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Doch vor allem freut sie sich auf Zeiten, in denen der Schmerz noch weiter in den Hintergrund tritt, ihr mehr erlaubt, vielleicht sogar öfters spontane Reisen. «Ich habe die Hoffnung, dass das Leben wieder einfacher wird», sagt Corinne Cattin Brischoux. Dann winkt sie kurz zum Abschied und geht aus dem grossen Saal.