«Auf der Bühne und am Patientenbett ist gute Kommunikation das A und O»

Michael von der Heide zählt zu den vielseitigsten, wandel­barsten Musikern der Schweiz und sorgt immer wieder für Überraschungscoups – auf und neben der Bühne. Nach 30 Jahren Showbusiness hat er während der Corona-Pandemie das Tenue gewechselt und in einem Alters- und Pflegeheim mit angepackt. Ein Gespräch über Aha- und Wow-Momente im Leben eines Ausnahmetalents.

Es ist 13.30 Uhr. Wie oft haben Sie heute schon gesungen?
Michael von der Heide: Im Moment singe ich effektiv sehr viel, weil ich gerade ein neues Album abgeschlossen habe und mitten in den Proben für die Tournee stecke. Aber ich trage eigentlich immer ein Lied auf den Lippen – seit frühster Kindheit. Das ist für mich fast wie atmen. Heute Morgen war ich im Wald. Und ja, auch dort singe ich. Manchmal verlege ich sogar das Einsingen vor Konzerten in den Wald, was den einen oder anderen Spaziergänger schon ein bisschen erschrecken kann. (Lacht.) Aber die Rehe bringt das nicht mehr aus der Fassung, die kennen mich schon gut.

Während der Corona-Pandemie waren Sie wieder in Ihrem früheren Beruf als Pflegefachmann aktiv. Weisse Hose statt funkelnde Outfits, Patientenbett statt Schein­werfer – ein Sprung ins kalte Wasser?
Ich habe die Ausbildung zum diplomierten Pflegefachmann vor vielen Jahren gemacht und war bereits damals im Musikbusiness tätig. Dass es so schnell zum ersten Plattenvertrag kommen würde, damit hatte ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gerechnet. Meinen angestammten Beruf legte ich in der Folge mehrere Jahrzehnte lang auf Eis. Dass ich jemals wieder einen Fuss in die Pflege setzen würde, damit hat in meinem Umfeld wirklich niemand gerechnet. Doch als eine ehemalige Arbeitskollegin nach einem meiner Konzerte mit einem Jobangebot auf mich zukam, habe ich angebissen. Und ja: Dieser Einsatz in einem Alters- und Pflegheim am Zürichsee während der Pandemie hat mir regelrecht den Ärmel reingezogen. Noch heute springe ich hin und wieder ein, wenn es zu Ausfällen kommt oder für einzelne Nachtdienste. 

«Funktioniert etwas nicht, heisst das oberste Gebot auf der Bühne wie auch in der Pflege: Ruhe bewahren, die Nerven nicht verlieren.»

Michael von der Heide

Wie reagieren die Menschen, die Sie pflegen, wenn sie realisieren, dass da ein Bühnenstar im Dienst ist? 
Ich stehe natürlich ein bisschen unter besonderer Beobachtung bei den Bewohnenden, aber auch bei Angehörigen und beim Personal. Aber dieses Gefühl, besonders exponiert zu sein, kenne ich natürlich von der Bühne. 

Sie gelten als begnadeter Entertainer. Wie viel kriegen die Leute, für die Sie als Pfleger verantwortlich sind, von diesem Talent mit?
Ich glaube, sowohl auf der Bühne als auch am Patientenbett ist gute Kommunikation das A und O. Das ist eine Art feinstoffliche und sehr individuelle Angelegenheit. Beim direkten Kontakt mit Patienten geht es darum, auf das Gegenüber einzugehen und zu erfassen, was gerade angezeigt ist. Manchmal ist ein kleiner Scherz zielführend, ein andermal ist gemeinsames Schweigen die bessere Alternative. 

Können Sie der momentanen Situation auch gute Seiten abgewinnen?
Durchaus. Dank meiner Erkrankung habe ich in den letzten Jahren viele neue Leute kennengelernt wie unlängst an einem Anlass von Special Olympics in der Ostschweiz. Auch sportlich taste ich mich an neue Disziplinen heran.

Singen Sie hin und wieder bei Ihren Einsätzen?
Während der Pandemie herrschte in unserer Institution eine Zeit lang Singverbot. Doch auch hinter der Maske lässt sich ein Lied summen. Insbesondere Menschen mit Demenz reagieren stark auf Musik. Aber während meiner Pflegeeinsätze bin ich natürlich nicht als Sänger unterwegs, dafür ist die Bühne da. Was nicht ausschliesst, dass ich ab und zu mit Patienten über ihre Lieblingslieder oder Musik plaudere.

Gibt es Parallelen zwischen dem Job auf der Bühne und jenem in der Pflege?
Jein. Sie stehen eher diametral zueinander oder um es so zu sagen: Was ich auf der Bühne mache, ist vorab Ich-bezogen, hat viel mit mir selbst zu tun. Bei der Pflege liegt der Schwerpunkt klar auf meinem Vi­sa­vis bzw. auf dem Menschen, den ich pflege. Doch gewisse Dinge sind sich wiederum sehr ähnlich, etwa bei Notfällen. Funktioniert etwas nicht, heisst das oberste Gebot auf der Bühne wie auch in der Pflege: Ruhe bewahren, die Nerven nicht verlieren. 

Welche Spuren hat der Einsatz in der Pflege während der Pandemie bei Ihnen hinterlassen?
Für Kulturschaffende war Corona ein grosser Einschnitt. Viele wussten weder ein noch aus. Das blieb mir zum Glück erspart: Gerade zu Beginn der Pandemie spürte ich, wie nützlich und wichtig mein Einsatz in der Pflege war. Hinzu kommt: Der Abstecher in diese Branche hat mir auch bezüglich Lebensplanung etwas gebracht. Zwar bin ich immer noch mit grosser Leidenschaft Musiker. Aber zu realisieren, dass ich auch in meinem angestammten Beruf eine sinnstiftende, erfüllende Alternative habe, tut gut. 

Was macht eine gute Pflegefachkraft aus?
Es braucht sicher Belastbarkeit und Flexibilität. Aber das Allerwichtigste ist: Man muss Menschen mögen. Pflegende kommen mit höchst unterschiedlichen Leuten zusammen, der Umgang mit einigen kann sehr anspruchsvoll sein. Und doch gilt immer: Die Würde der Patientinnen und Patienten steht über allem.  

Zurück zur Musik: Sie sind als Sänger mit zig Preisen bedacht worden. Welcher bedeutet Ihnen am meisten?
Dazu gehört sicher das «Werkjahr»; der Kulturpreis der Stadt Zürich im Jahr 2021. Das hat mich deshalb so gefreut, weil ich überhaupt nicht damit gerechnet habe.

«Ich will den Menschen eine Möglichkeit bieten, während einiger Stunden so richtig ein- und ab­zutauchen, zu vergessen, zu lachen, zu weinen, sich aus dem Alltag auszuklinken.»

Michael von der Heide


Was waren andere Schlüsselerlebnisse in Ihrer Karriere?
Höhepunkte gab es in den vergangenen Jahrzehnten viele. Aber wie für alle Sänger war für mich natürlich die erste Platte ein unvergesslicher Moment. Oder als ich zum ersten Mal einen meiner Songs im Radio hörte. Zu den Highlights gehören für mich auch der Auftritt mit Nina Hagen am Jazz Festival in Montreux oder die Welttournee mit Theatermacher Christoph Marthaler. 

Ein Leben für die Musik und mit der Musik: Michael von der Heide ist nicht nur auf der Bühne, sondern auch am Patientenbett voll in seinem Element.

Was zählt für Sie am meisten, wenn das Licht angeht, das Publikum lauscht, Sie zum ersten Ton ansetzen?
Mir geht es immer um Einheit. Sie soll während des Konzerts entstehen, mit dem Publikum und meiner Band. Ich will den Menschen eine Möglichkeit bieten, während einiger Stunden so richtig ein- und abzutauchen, zu vergessen, zu lachen, zu weinen, sich aus dem Alltag auszuklinken. Kurz: Ich möchte die Leute emotional berühren, etwas bewegen.

Sie zählen zu den wenigen deutschsprachigen Sängern der Schweiz, denen es gelungen ist, den «Röstigraben» zu überspringen. Kalkül oder Zufall?
In dieser Beziehung war sicher auch ein Quäntchen Glück im Spiel: Als ich als Au-pair in der Westschweiz im Einsatz war, nahm ich bei einer Gesanglehrerin Unterricht, tastete mich an französische Lieder heran und schrieb schon bald auch eigene Stücke in dieser Sprache. Am Paléo Festival in Nyon sah ich dann als 16-Jähriger Stephan Eicher auf der Bühne, zu dessen Repertoire Songs in verschiedenen Sprachen gehören. Das hat mich motiviert und hallt bis heute nach: Auch mein neuestes Album «Nocturne» ist moitié-moitié – also halb deutsch, halb französisch.

Die Berner Klinik Montana war ursprünglich ein Luxushotel namens Palace Bellevue. Ein Hauch Glamour hat sich bis heute gehalten, die Aussicht auf die Walliser Alpen ist atemberaubend. Welches Lied würden Sie hier anstimmen? 
Auf meinem aktuellen Album, das am 8. September erschienen ist, gibt es ein Lied, das vorzüglich zu diesem Setting passen würde. Der Song heisst Ursula Andress und ist eine Hommage an diese Bernerin, die es in die grosse weite Welt zog und die es als Schauspielerin zu Weltruhm brachte. 

Interview: Tanja Aebli

Ein Chansonnier mit vielen Gesichtern


Michael von der Heide ist im Kurort Amden (SG) aufgewachsen. Mit 16 verbrachte er ein Jahr als Au-pair in der Westschweiz und absolvierte im Anschluss in Winterthur eine Ausbildung zum Krankenpfleger. 

Im Jahr 1996 veröffentlichte er sein erstes Album, das über 15 000-mal verkauft wurde. «Ein neuer Stern ist geboren», kommentierte die Musikwelt damals seinen fulminanten Start im Showbusiness. Sie sollten recht behalten: Der 51-jährige Chansonnier hat bisher Hunderte von Konzerten gegeben, ist in unzähligen TV-Shows, Filmen und Theaterstücken aufgetreten und mit vielen Auszeichnungen bedacht worden. Soeben hat er sein 15. Album mit dem Titel «Nocturne» veröffentlicht.

michaelvonderheide.com

Fotos: Patrick Mettraux