«Fussballerinnen haben ein höheres Verletzungsrisiko als ihre männlichen Kollegen»

Nach 109 Länderspielen für die Fussballnationalmannschaft und 20 Jahren in europäischen Erstligavereinen trat die Torhüterin Gaëlle Thalmann im letzten Sommer vom aktiven Sport zurück. In einem Interview mit Rehavita spricht die 38-jährige Friburgerin über ihre Erfolge …und ihre Verletzungen.

Gaëlle Thalmann fühlte sich auf dem Fussballrasen wie zu Hause. Ihre Karriere als Fussballprofi dauerte 20 Jahre.

Selten ist der Begriff «aktiver Ruhestand» so zutreffend wie in Bezug auf Sie…
Gaëlle Thalmann: Stimmt, zwischen meinen Aktivitäten auf dem Spielfeld und im Büro besteht eine meiner grössten Herausforderungen derzeit darin, donnerstags frei zu nehmen, wie ich es mir vorgenommen hatte, als ich meine Karriere als professionelle Fussballspielerin beendete. Abgesehen davon ist meine Arbeit hier im Tessin spannend und abwechslungsreich: Einerseits bin ich beim FC Lugano für den Frauenfussball zuständig und andererseits trainiere ich die U17-Torhüter des Team Ticino.

Zum Glück ist es für Sie nichts Neues, beruflich mehrere Hüte zu tragen…
Weder für mich noch für die meisten Profifussballerinnen, zumindest die, die in der Schweiz spielen. Während meines letzten Spielerinnenvertrages in der Schweiz, von 2019 bis 2021 bei Servette FC Chênois Féminin, arbeitete ich zu 80% in der Kommunikationsabteilung des Vereins. Dazu kamen fünf Trainingseinheiten und – mindestens – ein Spiel pro Woche. Mein derzeitiges Arbeitspensum ist also im Vergleich dazu durchaus zu bewältigen.

In unserem Land ist es also trotz der zunehmenden Sichtbarkeit des Frauenfussballs derzeit noch nicht möglich, seinen Lebensunterhalt allein damit zu bestreiten?
Genau. Das war ziemlich frustrierend für mich, als ich nach zehn Jahren, die ich hauptsächlich im Ausland verbracht hatte, in die Schweiz zurückkehrte, um dort zu spielen. In den deutschen und italienischen Vereinen, in denen ich unter Vertrag war, konnte ich mich auf meine sportliche Karriere konzentrieren. Dasselbe gilt für die Zeit zwischen 2021 und 2023, als ich in Spanien spielte, obwohl ich weiterhin eine Anstellung beim Schweizerischen Fussballverband hatte. In unserem Land dagegen müssen Frauen, die in der ersten Liga spielen, weiterhin gleichzeitig auf und neben dem Spielfeld arbeiten. Die Zahlen zeigen, dass sich immer mehr Mädchen – und Zuschauer – für Frauenfussball interessieren. Die Frauen-EM, die nächstes Jahr in der Schweiz ausgetragen wird, dürfte dieses Interesse noch steigern. Allerdings ist es höchste Zeit, dass die Gehälter der Spielerinnen mitziehen.

Sie haben einen Masterabschluss in Geschichte und hätten sich nach dem Ende Ihrer Karriere als Spielerin beruflich völlig neu orientieren können, aber Fussball ist Ihnen in Fleisch und Blut übergegangen?
Nicht ganz: Lange Zeit war Fussball mein Zweitsport. Während meiner Kindheit und frühen Jugend war meine grosse Leidenschaft Tennis, das ich auf hohem Niveau spielte. Als Teenager habe ich sogar darüber nachgedacht, mit dem Fussball aufzuhören und nur noch Tennis zu spielen, da ich zwischen den verschiedenen Trainingseinheiten und der Schule nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Ausserdem erlitt ich erste Verletzungen, die wahrscheinlich auf eine körperliche und geistige Überlastung hindeuteten.

«Ich habe mit etwa 6 Jahren angefangen, den Ball zu kicken,auf der Strasse mit meinen Freunden.»

Gaëlle Thalmann

Und doch besiegte der schwarz-weisse den gelben Ball; warum?
Als ich 16 Jahre alt war, wurde ich zu einem Fussballcamp mit der U19-Nationalmannschaft eingeladen. Diese tolle Erfahrung hat mich dazu gebracht, meine Meinung zu ändern.

Wie entstand Ihre Leidenschaft für die Rolle der Torhüterin?
Ich habe mit etwa 6 Jahren angefangen, den Ball zu kicken, auf der Strasse mit meinen Freunden. In meiner Nachbarschaft gab es vor allem Jungs, was perfekt zu dem «missratenen Jungen» passte, der ich damals war. Wir spielten Verstecken, Krieg und Fussball… Mein Vater spielte damals in einer Seniorenmannschaft, und ich liebte es, ihn anzufeuern, denn die Atmosphäre auf und neben dem Spielfeld faszinierte mich. Als ich 8 oder 9 Jahre alt war, erklärte sich mein Vater bereit, eine Juniorenmannschaft des örtlichen Vereins FC Bulle zu trainieren. Und natürlich wurde auch ich in diese Mannschaft aufgenommen. Ein Jahr später verliess einer der Torhüter das Team und ich schlug vor, seinen Platz einzunehmen. Papa war ein wenig skeptisch, aber ich konnte ihn in unserem Garten mit schönen Paraden überzeugen.

Für eine Profisportlerin sind Verletzungen leider fast unvermeidlich.

Mit Skepsis mussten Sie sich auch später auseinandersetzen, weil Sie mit 1.70 m Körpergrösse unter dem Durchschnitt für eine Torhüterin liegen…
Auf internationaler Ebene gab es tatsächlich viele Torhüterinnen, die grösser waren als ich. Und einige Trainer haben mich auch darauf angesprochen. Aber es war kein wirkliches Handicap. Im Gegenteil, es hat mich motiviert, noch härter an meiner Explosivkraft und meinem Spielverständnis zu arbeiten. Und ja, Yann Sommer (Anm. d. Red.: Torwart der Fussballnationalmannschaft der Männer sowie von Inter Mailand) bekommt die gleichen Kommentare über seine «kleinen» 1.84 Meter, und schauen Sie sich an, wo er gerade steht…

Sie haben Ihre Fussballschuhe nach 20 Jahren als Profifussballerin an den Nagel gehängt. Ist das die Karriere, von der Sie als Kind geträumt haben?
Nein, überhaupt nicht. Als Kind träumte ich wie alle meine Fussballkameraden davon, später einmal bei einem renommierten ausländischen Fussballverein wie Manchester United oder Inter Mailand zu glänzen. Kurz gesagt, in einem… Männerverein. (Lachen) Man muss dazu sagen, dass ich nicht einmal wusste, dass Frauen von diesem Sport leben können. Ausserdem bewunderte ich den italienischen Verteidiger Paolo Maldini sehr, der seine gesamte Karriere bei einem einzigen Verein, dem AC Mailand, verbracht hatte. Das ist kein Vergleich zu meiner eigenen Karriere: Als Profi habe ich in 16 verschiedenen Vereinen in 4 Ländern gespielt.

Wie würden Sie Ihre Karriere als Fussballspielerin beschreiben?
Ich glaube, ich habe die Karriere gemacht, die zu mir passt, die es mir ermöglicht hat, Fortschritte zu machen, zu lernen und mich auf und neben dem Platz weiterzuentwickeln. Besonders stolz bin ich darauf, dass ich mir selbst immer treu geblieben bin. Das ist eine meiner Qualitäten und Stärken.

Können Sie einige Höhepunkte nennen?
Ich hatte das Glück, die Schweiz bei zwei Europa- und zwei Weltmeisterschaften zu vertreten: 2015 in Kanada, 2017 in den Niederlanden, 2022 in England und 2023 in Australien/Neuseeland. Und das waren auch noch historische Premieren für den Schweizer Frauenfussball! In Kanada spielten wir vor Zehntausenden von Zuschauern, was für Fussballerinnen, die es gewohnt sind, bei der Meisterschaft in fast leeren Stadien zu spielen, ziemlich aufregend war. Eine weitere sehr intensive Erfahrung war das Viertelfinale der Champions League, das ich mit Torres Calcio gleich zweimal erreicht habe. Oder auch alle nationalen Titel, die ich in der Schweiz, in Deutschland und in Italien errungen habe. Und natürlich meine 109 Einsätze in der Nationalmannschaft – ein Schweizer Rekord in dieser Position, und zwar für Männer und Frauen zusammen.

Haben Sie auch besonders schmerzhafte Erfahrungen gemacht?
Der Ertrinkungstod einer Teamkollegin in der Nationalmannschaft 2019 (Anm. d. Red.: die Bernerin Florijana Ismaili, Kapitänin des BSC Young Boys) war eine besonders schockierende und traumatisierende Erfahrung. In der Nationalmannschaft sind die Spielerinnen jahrelang zusammen, man steht sich sehr nahe. Das heisst nicht, dass sich alle gut verstehen. Aber im Laufe der Jahre baut man zwangsläufig feste Freundschaften zu bestimmten Mädchen auf. Ein weiteres Erlebnis, das ich gerne aus meinen Erinnerungen streichen würde, ist das schreckliche Ende eines Spiels der Nationalmannschaft, das ich als Ersatzspielerin von der Bank aus verfolgte. Die Torhüterin hatte sich am Arm verletzt und wurde am Spielfeldrand, direkt hinter dem Tor, behandelt. Ich nahm ihren Platz ein und musste die Stellung halten, während meine Mitspielerin nur wenige Meter von mir entfernt mit einem gebrochenen Arm schrie. Zu den weiteren schwierigen Momenten meiner Karriere zählen natürlich auch die Verletzungen, die ich erlitten habe.

Sind Verletzungen Ihrer Meinung nach bei Fussballprofis unvermeidbar?
Wenn man so viel Zeit auf dem Spielfeld verbringt, sei es im Training oder bei Spielen, steigt das Risiko von Verletzungen. Hinzu kommen die körperliche Erschöpfung, die vielen Reisen usw. Eine Gruppe von Menschen scheint jedoch stärker gefährdet zu sein: Frauen. Einige Studien zeigen, dass Fussballerinnen häufiger Kreuzbandrisse erleiden als ihre männlichen Kollegen. Dieser Unterschied scheint zum einen mit rein physiologischen Ursachen (Hormone, Körperbau usw.) zusammenzuhängen. Zum Anderen lässt er sich auf die Betreuung der Spielerinnen (Ärzte, Fitnesstrainer, Physiotherapeuten) zurückführen, die viel weniger umfassend ist als bei den männlichen Spielern. Und dann beginnt man – endlich! – das Ausmass der strukturellen Ursachen von Verletzungen, wie z. B. Stress und finanzielle Sorgen, zu erkennen. Und damit sind wir wieder bei dem, was ich bereits gesagt habe: Viele Profifussballerinnen müssen zwischen Training, Lebensunterhalt und Familie jonglieren. Ein weiteres Argument für die Professionalisierung des Frauenfussballs.

«Ich rate dazu, sich eine Vertrauensperson zu suchen, die einen während des gesamten Rehabilitationsprozesses begleitet.»

Gaëlle Thalmann

Welche Arten von Verletzungen haben Sie erlitten?
Als ich 18 Jahre alt war, hatte ich meinen ersten Kreuzbandriss, der wahrscheinlich auf eine Form von Erschöpfung zurückzuführen war. Damals verfolgte ich eine Karriere in der ersten Frauenliga und war gleichzeitig Schülerin am Gymnasium. Einige Jahre später hatte ich einen Bänderriss im Knöchel. Zehn Jahre danach einen Kreuzbandriss in meinem anderen Bein. Doch dieses Mal war alles anders: Ich beschloss, mich monatelang voll und ganz auf meine Rehabilitation zu konzentrieren und mich dabei auf Menschen zu verlassen, denen ich wirklich vertraute. Die Schweizer Nationalmannschaft hatte sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte für die Weltmeisterschaften in Kanada qualifiziert. Ich war also besonders motiviert, meine volle Mobilität wiederzuerlangen. Diese Personen halfen mir nicht nur während des gesamten Rehabilitationsprozesses, sondern machten mir auch klar, wie wichtig es ist, im Alltag mit Kraft-, Stabilisierungs- und Kräftigungsübungen präventiv zu arbeiten. Seitdem habe ich keine grösseren Verletzungen mehr erlitten.

Welchen Rat würden Sie Personen geben, die eine Rehabilitation planen?
Ich würde ihnen dringend raten, von Anfang an eine Vertrauensperson zu wählen, die sie durch den Rehabilitationsprozess führt. Mir hat es auch sehr geholfen, dass ich mir mit meinem Physiotherapeuten regelmässig Ziele gesetzt habe: x Wochen nach der Operation wieder gehen, dann x Wochen später wieder laufen usw. Kurz gesagt, die Rehabilitation in Etappen zu unterteilen und jedes Mal ein Ziel zu setzen, damit ich merke, dass ich Fortschritte mache. Das hat mich davor bewahrt, den Mut zu verlieren.

Sie sind keine Profifussballerin mehr. Achten Sie jetzt weniger auf Verletzungen?
Meine Arbeit ist immer noch sehr körperbetont. Ich stehe mit den Jugendlichen auf dem Platz und übe mit ihnen Paraden und Fussballbewegungen. Ich muss in Form bleiben und weiterhin Verletzungen vermeiden, indem ich regelmässig ins Fitnessstudio gehe. Allerdings möchte ich mir im nächsten Winter wieder ein kleines Vergnügen gönnen: Skifahren. Ein Sport, der mir Spass macht, den ich aber jahrelang nicht ausüben konnte, weil es mir als Fussballspielerin wegen der Verletzungsgefahr vertraglich untersagt war.

Interview: Patricia Michaud

Ein Masterabschluss, zwei Weltmeisterschaften und drei fremde Länder


Gaëlle Thalmann ist ehemalige Torhüterin der Schweizer Fussballnationalmannschaft. Die 1986 in Riaz (FR) geborene Absolventin eines Masterstudiengangs in Geschichte spielte als Profispielerin unter anderem in Italien (Torres, Florenz, Bergamo, Verona und Sassuolo), Deutschland (Potsdam, Hamburg, Leipzig und Duisburg) und Spanien (Sevilla). Sie war 109-mal für die Nationalmeisterschaft im Einsatz und nahm 2015 und 2023 an den Weltmeisterschaften sowie 2017 und 2022 an den Europameisterschaften teil. Seit August 2023 leitet sie den Frauenfussball beim FC Lugano und trainiert die U17-Torhüter des Team Ticino.

Fotos: IMAGO / Sportimage / Just Pictures / PA Images / Sports Press Photo