Empowerment ist das Wichtigste

Die muskuloskelettale Rehabilitation ist einer der Schwerpunkte der Berner Klinik Montana. Hier können sich die Patienten auf das Fachwissen und die Interdisziplinarität eines Teams aus Pflegekräften, Therapeuten und Ärzten verlassen. Dies stellte auch Susanne Kambli fest, die nach ihrer Hüftoperation in die Klinik kam.
An diesem Morgen halten sich die Wolken hartnäckig an den Gipfeln fest. «Das ist mal was anderes: Hier ist es fast immer schön, das ist schon fast langweilig», scherzt Susanne Kambli vom breiten Balkon ihres Zimmers aus. Die 70-jährige Bernerin wirft einen letzten Blick auf die Berge, die sich majestätisch vor der Berner Klinik Montana erheben, und rollt dann ihren Stuhl zurück in ihr warmes Zimmer.
Susanne Kambli ist seit zwei Wochen hier. Wenige Tage vor ihrer Aufnahme hatte sie sich in Bern einer Hüftoperation unterzogen, bei der ihr eine Totalprothese eingesetzt wurde. Nun steht die Rehabilitation an. «Nichts wirklich Neues für mich», kommentiert sie. Sie leidet seit fast 50 Jahren an spastischer Hemiparese und geht mehrmals pro Woche von zu Hause aus zur Physiotherapie.
So viel Selbstständigkeit wie möglich
Nur kurz hat sie Zeit, eine Tasse Tee zu trinken und ein paar Nachrichten an ihre Lieben zu schicken, da ist schon ein leises Klopfen an der Tür zu hören. Eine der Fachangestellten Gesundheit (FaGe) der Abteilung für muskuloskelettale Rehabilitation, in der Susanne Kambli behandelt wird, streckt ihren Kopf durch die Tür. «Sind Sie bereit für den Tag?», fragt Audrey Constantin. «Immer!»
Audrey ist gekommen, um der Patientin bei der Körperpflege und beim Anziehen zu helfen. Aber Achtung: In der Berner Klinik Montana bedeutet «helfen» nicht «etwas für jemanden tun». Ganz und gar nicht. «Von Beginn ihres Aufenthalts an werden die Patienten ermutigt, so selbstständig wie möglich zu sein, um sich auf ihre Rückkehr nach Hause vorzubereiten», erklärt die Pflegehelferin. «Meine Aufgabe besteht also darin, Frau Kambli zu begleiten und ihr praktische Ratschläge zu geben.»
Auch wenn die Patientin noch nicht in der Lage ist, ohne Hilfe zu stehen, wird sie dazu angehalten, sich selbst die Schuhe anzuziehen. Audrey Constantin nutzt die Gelegenheit, um sie zu fragen, ob ihr diese Bewegung Schmerzen oder Schwierigkeiten bereitet. All dies sind wertvolle Informationen, die über das zentrale klinische Informationssystem an andere Personen weitergeleitet werden, die für die Betreuung der Patientin verantwortlich sind, insbesondere an Ärzte und Therapeuten.
Jung und motiviert
Nachdem die FaGe gegangen ist, beugt sich Susanne Kambli vorsichtig nach vorne und zieht ein Blatt Papier aus dem Stauraum unter dem Sitz ihres Rollators. «Es ist Zeit, mein Therapieprogramm in Angriff zu nehmen!», verkündet sie fröhlich. Auf dem Papier sind die Therapien aufgelistet, die an diesem Tag für sie geplant sind, angefangen mit einer individuellen Ergotherapie.
Die Berner Patientin wird von Jérémy Jeanbourquin betreut. Wie viele andere Mitarbeiter ist er jung und sehr motiviert. Seit einigen Jahren ist die Berner Klinik Montana Ausbildungsstätte. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Pflegekräfte, Therapeuten oder Ärzte nach ihrem Abschluss entscheiden, hier zu bleiben. Diese Treue kommt den Patienten sehr zugute, da die Fachkräfte über das neueste Wissen in ihrem Bereich verfügen. Und oft auch über eine unerschütterliche Energie.
«Von Beginn ihres Aufenthalts an werden die Patienten ermutigt, sich auf ihre Rückkehr nach Hause vorzubereiten.»
Audrey Constantin, Fachfrau Gesundheit
Ein massgeschneidertes Programm
Jérémy Jeanbourquin schlägt seiner etwas überraschten Patientin vor, mit einer Partie Darts zu beginnen. Das therapeutische Ziel besteht vor allem darin, das Aufnehmen der Pfeile zu trainieren, die wie Alltagsgegenstände vor ihr auf dem Tisch liegen. «Ich dachte, ich bin für die Reha hier, nicht um zu spielen», kommentiert sie mit einem Augenzwinkern. Der Ergotherapeut lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. «Mit diesem ‹Spiel› trainieren Sie nicht nur Ihr Gleichgewicht, sondern auch verschiedene Bewegungen, die Sie jeden Tag zu Hause, zum Beispiel in der Küche, ausführen.» Die 70-Jährige lässt sich bereitwillig überreden und weist darauf hin, dass Darts für sie eine Premiere ist. «Na ja, es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen», fährt sie dann fort.
Auch hier ist Empowerment das Schlüsselwort. Die farbenfrohen spitzen Gegenstände werden auf einem Tisch vor Susanne Kambli aufgestellt. Sie steht mit Blick auf die Dartscheibe vor dem Tisch, auf den sie sich bei Bedarf stützen kann. Sie muss sich nach einem Pfeil bücken und dann den Arm nach hinten ziehen, um den Pfeil zu werfen, während sie mit dem Rest des Körpers das Gleichgewicht hält. Jérémy Jeanbourquin ermutigt sie. «Zweimal fünf Punkte, das ist gut!» Und er neckt sie: «Das ist das sogenannte Anfängerglück…». Während des gesamten Spiels achtet der Ergotherapeut darauf, dass die Haltung seiner Patientin, insbesondere die der Füsse, genau richtig ist.
«Wenn die Patienten in die Klinik aufgenommen werden, führen wir eine gründliche Anamnese durch; ich bitte sie unter anderem, mir ihre täglichen Aktivitäten sowie die Innen- und Ausseneinrichtung ihrer Wohnung detailliert zu beschreiben.» Nach diesem Eingangsgespräch wird ein funktionelles Ziel festgelegt und die Therapeuten erstellen ein massgeschneidertes Rehabilitationsprogramm.
Die Bedeutung der Disziplin
Nächster Schritt: Physiotherapie. Vom dritten Stock des ehemaligen Luxushotels – das bereits 1949 in ein Sanatorium umgebaut wurde – geht Susanne Kambli in den ersten Stock. Im hellen Physiotherapieraum wird sie von Alexandra Cirillo mit einem breiten Lächeln begrüsst. «Ich habe den Tisch in der Nähe der Fenster aufgestellt, damit wir die Sonne geniessen können», sagt sie.
Wenig überraschend kommt es für die Physiotherapeutin nicht in Frage, ihre Patientin zu «bemuttern». Sie fordert sie freundlich, aber bestimmt auf, vom Rollator zum Tisch zu wechseln, aufzustehen und sich hinzusetzen und natürlich mehrere Runden Muskelaufbauübungen zu machen. Beim Versuch aufzustehen, verliert Susanne Kambli kurz das Gleichgewicht und bleibt unfreiwillig sitzen. «Dabei habe ich heute noch gar keinen Wein getrunken», lacht sie. Sie wird wieder ernst und steht entschlossen auf. «Ich kenne mich mit Physiotherapie aus! Ich mache das schon so lange und weiss, wie wichtig es ist, diszipliniert zu sein, damit es funktioniert.»
Alexandra Cirillo bestätigt das. «Solange die Patienten hier in der Klinik sind, machen sie in der Regel rasante Fortschritte, weil die Physiotherapie regelmässig und intensiv ist; das Problem fängt an, wenn sie nach Hause kommen. Die Patienten werden zwar mit einem umfassenden Übungsprogramm nach Hause entlassen, vernachlässigen dann aber die Übungen, vor allem «aus Angst, etwas falsch zu machen». Deshalb wurde in der Pflegeeinrichtung eine freie Übungsgruppe eingerichtet. «Während ihres Aufenthalts können die Patienten dort ihre persönlichen Übungen ausführen und sich bei Bedarf von einem Physiotherapeuten korrigieren lassen.» So werden die richtigen Bewegungen trainiert, die sie dann zu Hause sicher üben können.

Die mit der Physiotherapeutin erlernten Übungen müssen zu Hause selbstständig ausgeführt werden können.

Die Patientin kann immer auf die Hilfe der Pflegekraft zählen. Aber Vorsicht: «Helfen» heisst nicht «etwas für jemanden tun».
Erst aufstehen, dann gehen
Eine andere Etage des grossen Gebäudes, in diesem Fall die zweite, eine andere Physiotherapeutin. Im MTT-Raum, der mit den modernsten und fortschrittlichsten Geräten zur Muskelstärkung wie dem Anti-Schwerkraft-Laufband «Alter-G» ausgestattet ist, trifft Susanne Kambli Ulrike Marahrens für eine Trainingseinheit am Stehbrett. Dieses ebenso effektive wie unterhaltsame Gerät fördert die Rückkehr einer Person, deren untere Gliedmassen durch eine Krankheit oder eine Operation geschwächt sind, in die aufrechte Position. «Denn bevor man gehen kann, muss man aufstehen können», merkt die Physiotherapeutin an.
Die Patientin nutzt das Gerät, das aus einem beweglichen horizontalen Brett mit einem Bildschirm besteht, bereits zum dritten Mal. Susanne Kambli, die mit einem Metallgeschirr auf den Beinen gehalten wird, benutzt das Brett wie einen Controller für ein Videospiel. Indem sie den Tisch mithilfe ihrer Körperbewegungen bewegt, lässt sie auf dem Bildschirm einen animierten Piraten vor- und zurückgehen, Goldmünzen sammeln und seine Schatztruhe damit füllen.
«Beim ersten Mal hat Frau Kambli nur ein paar Minuten gespielt, dieses Mal sind es schon 20 Minuten», freut sich Ulrike Marahrens. Ihr Körper ist nicht mehr an die Senkrechte gewöhnt, deshalb müssen wir darauf achten, dass wir langsam vorgehen», sagt sie und schaltet das Gerät aus. Ihre Patientin gibt zu, dass sie das Training gerne noch ein wenig verlängert hätte. Dazu muss man allerdings wissen, dass sie sich ein klares Ziel gesetzt hatte. «Ich bin in einem Rollstuhl in die Klinik gekommen und würde sie gerne an einem einfachen Stock wieder verlassen.»
Interdisziplinarität im Mittelpunkt
Als Susanne Kambli in ihr Zimmer zurückkehrt, hat sie ihre gute Laune und ihren Sinn für Humor wiedergefunden. Ein Blick auf ihren Terminplan verrät ihr, dass es Zeit für die Visite ist. «Schick, die Ergebnisse meines Bluttests als Aperitif», sagt sie, immer noch zu Scherzen aufgelegt. Einige Minuten später klopfen Ina Vultureanu, leitende Ärztin für muskuloskelettale Rehabilitation, und Assistenzärztin Sarah Harbi an die Tür des Zimmers, das nun von hellem Licht durchflutet ist. Nachdem sie sich nach dem Befinden ihrer Patientin erkundigt und ihr vorgeschlagen haben, ihre Medikation anzupassen, fordern sie sie auf, aufzustehen und ihre unteren Gliedmassen zu bewegen. «Sie sind stabiler und das Aufstehen fällt Ihnen leichter als beim letzten Mal, das ist gut», kommentiert Ina Vultureanu.
«Heute machen Sarah und ich nur eine einfache ärztliche Untersuchung, aber einmal pro Woche werden alle Patienten in der Klinik interdisziplinär untersucht», erklärt die leitende Ärztin. Bei dieser Visite kommen alle für die Betreuung zuständigen Personen zusammen, von den Pflegekräften über die Ärzte bis hin zu Therapeuten, Psychologen und Ernährungsberatern. «Der Patient steht im Mittelpunkt, er ist Akteur seiner Gesundheit, und wir besprechen gemeinsam die Entwicklung seines Zustands, seine spezifischen Bedürfnisse und Erwartungen sowie mögliche Anpassungen in der Behandlungskette.»
Ina Vultureanu fährt fort: «In der Berner Klinik Montana pflegen wir eine echte Kultur der Interdisziplinarität; die Rehabilitation eines Patienten ist nicht das Projekt eines einzelnen Arztes, sondern das eines Teams aus Pflegern, Therapeuten und Ärzten.» Damit diese Interdisziplinarität funktioniert, «ist es wichtig, einander zuzuhören». Wenn ein Pfleger eines Morgens feststellt, dass es seinem Patienten viel leichter als am Vortag fällt, seine Hose anzuziehen, «ist diese Information im Kontext der Rehabilitation genauso wichtig wie ein Bluttest, oder sogar noch wichtiger».
«Der Patient steht im Mittelpunkt, er ist Akteur seiner Gesundheit.»
Dr. Ina Vultureanu, Leitende Ärztin für muskuloskelettale Rehabilitation
Wünsche respektieren
Der Tag neigt sich dem Ende zu. Susanne Kambli ist allein in ihrem Zimmer und geniesst durch das grosse Fenster den Anblick der letzten Sonnenstrahlen, die über die schneebedeckten Walliser Berggipfel streichen. «Es war ein guter Tag, ich habe mir mein Essen verdient!» Verdient? «Ich bin hier, um weiterzukommen; mein Ziel ist es nicht, die Mobilität wiederzuerlangen, die ich vor der Operation hatte, ich möchte, dass sie besser wird als vorher.» Und die 70-jährige Bernerin fügt hinzu: «Ich weiss es wirklich zu schätzen, dass dieser Wunsch hier in der Klinik respektiert und sogar unterstützt wird.

Bei den Visiten auf dem Zimmer spricht das medizinische Team über die Änderung des Zustands der Patientin, ihre Erwartungen sowie mögliche Anpassungen der Behandlung.
Text: Patricia Michaud
Fotos: Carolina Piasecki, blende.ch