Die Freude am Essen wiederentdecken

Essen ist für die meisten von uns ein Genuss. Für Menschen, die unter einer Schluckstörung leiden, ist Essen jedoch ein Kampf. Logopädin, Ernährungs­beraterin, Pflegerinnen und Köche setzen alles daran, Patienten mit Schluckstörungen in der Berner Klinik den Weg hin zu Autonomie in Sachen Essen zu ebnen.

David Chardonnens betrachtet die Panna Cotta auf seinem Tablett skeptisch. «Ich denke nicht, dass ich das runterbekomme …». Trotzdem zögert er nicht. Er packt seinen Löffel fest, schöpft das Dessert aus dem Glasgefäss und führt es zum Mund. Er legt eine kleine Menge ganz nach hinten, nah an den Gaumen. Doch das hilft nichts. Im Moment des Schluckens verzieht sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Entschlossen unternimmt der Fünfzigjährige zwei weitere Versuche. Schliesslich legt er den Löffel weg und gibt auf. Die Logopädin Victorine Bossert, die ihm gegenüber sitzt, versichert ihm: «Das ist schon viel besser als beim letzten Mal! Da wollten Sie die Panna Cotta nicht einmal probieren! Und der Rest des Essens ist gut verlaufen. Haben Sie Lust auf ein Eis?»

Beim Essen können Patienten mit einer Schluckstörung mit der Unterstützung und dem Fachwissen ihrer Logopädin rechnen.

Etwas später hat sich ein leerer Becher Zitronensorbet zur kaum berührten Panna Cotta auf dem Tablett von David Chardonnens gesellt. Der Patient aus dem Kanton Freiburg taucht gerade seinen Finger in den schwarzen Kaffee. «Da ich noch kein Gefühl auf Lippen und Zunge habe, muss ich aufpassen, dass ich mich nicht verbrenne.» Der Test hat ihn wohl überzeugt, sodass er einen Strohhalm in das Getränk eintaucht und sichtlich genussvoll einen ersten Schluck nimmt. Victorine Bossert nutzt die Gelegenheit, Bilanz über das Essen zu ziehen und die Fortschritte zu unterstreichen. Zudem gibt sie ihrem Patienten ein paar Tipps, insbesondere in Bezug auf eine effiziente, sichere Körperhaltung.

Erst flüssig, dann püriert

David und Victorine sitzen am Esstisch im ersten Stock der Berner Klinik Montana, wo der Patient aus Corminbœuf seinen zweiten Rehabilitationsaufenthalt verbringt. Im März 2024 wurde bei ihm ein Plattenepithelkarzinom im Bereich des Mundbodens diagnostiziert. Einige Monate später musste er sich einer schweren Operation im Berner Inselspital unterziehen. Bei dieser Operation wurde zunächst der Tumor entfernt. Zudem wurde ein gesichtschirurgischer Eingriff durchgeführt, bei dem Haut und Knochen von einem Bein des Patienten verwendet wurden.

Direkt nach der Operation erhielt David Chardonnens seine Ernährung ausschliesslich über eine PEG-Sonde. Trotz des Verlustes seiner Zähne hat er allmählich wieder begonnen, Nahrung teilweise über den Mund aufzunehmen. Zunächst in flüssiger Form und später püriert. «Mein grosses Glück ist, dass ich weder den Geschmacks- noch den Geruchssinn verloren habe», erzählt er. «Heute konnte ich mein Trutengeschnetzeltes, den gekochten Weizen und das Gemüse schmecken, auch wenn es püriert war. »

Ein paar Wochen zuvor, während seines ersten Klinikaufenthalts, musste David Chardonnens alles «neu lernen».Dazu gehörten das Essen zum Mund führen, kauen und schlucken. «Jede Mahlzeit erforderte so viel Konzentration, dass ich danach das Gefühl hatte, einen Marathon gelaufen zu sein», berichtet er. Während des Essens war stets eine ausgebildete Pflegekraft anwesend, die darauf trainiert war, mögliche Warnsignale wie Hustenanfälle zu erkennen und im Falle einer Erstickungsgefahr einzugreifen. Mittlerweile ist David in der Lage, sein Essen selbstständig zu sich zu nehmen, wobei dies im ersten Stock und nicht im grossen Speisesaal im Erdgeschoss der Berner Klinik erfolgt.

Gelegentlich kommt eine Logopädin dazu, um seine Fortschritte zu bewerten und in Absprache mit einer Ernährungsberaterin mögliche Anpassungen der Texturen und/oder der Mengen zu besprechen.

Während der Schlucktherapie wird insbesondere an der intraoralen Stimulation gearbeitet.

Genuss hat oberste Priorität

«In der Klinik haben wir es regelmässig mit Personen zu tun, die unter Schluckstörungen leiden, also Schwierigkeiten haben, festes und/oder flüssiges Essen zu schlucken», so Tiphaine Largeron, die leitende Logopädin der Einrichtung. Die meisten dieser Patienten leiden unter neurodegenerativen Erkrankungen, hatten einen Schlaganfall oder, wie David Chardonnens, einen Eingriff im Zusammenhang mit einem Tumor. Die Aufnahme von Patienten mit Schluckstörungen zielt einerseits darauf ab, ihnen Sicherheit zu garantieren – indem Verschlucken vermieden wird, das heisst, die Lebensmittel dürfen nicht in die Luftröhre gelangen – und andererseits möchte man ihnen helfen, möglichst angenehme und genussbringende Lebensmittel auszuwählen. «Pflegepersonal, Ernährungsberaterinnen und Logopädinnen und die Küche arbeiten Hand in Hand.»

«Der Genuss steht im Mittelpunkt, da es oft um Menschen geht, die mit schweren und schmerzhaften Krankheiten kämpfen», ergänzt die Logopädin. «Um dies zu erreichen, begleiten wir unsere Patienten individuell und testen Produkte mit verschiedenen Texturen. Wenn ein Patient mit Schluckstörungen ein bestimmtes Aroma oder ein bestimmtes Joghurt besonders mag, bieten wir ihm diese an. Nicht zuletzt wird jeder Schritt hin zu einer «normalen» Ernährung gefeiert, egal ob es der erste Kompott, der erste Teller mit Stückchen oder das erste Essen im Restaurant im Erdgeschoss ist.»

Im Tempo des Patienten

Dieselbe Etage, dieselben Protagonisten, diesmal in einem Logopädie-Behandlungsraum. Victorine sitzt neben David im Logopädie-Behandlungsraum und bittet ihn, den Mund zu öffnen. Sie legt einen Eiswürfel auf seine Zunge und beobachtet die Reaktion. «Ich fühle gar nichts», sagt er. Die Therapeutin schiebt den Eiswürfel vorsichtig in den Mund und lässt ihn verschiedene Stellen berühren. Aber das Ergebnis bleibt unverändert. «Im Rahmen der Schlucktherapie arbeiten wir insbesondere an der intraoralen Stimulation. Da der Mund zur Intimsphäre des Patienten gehört, gehen wir dabei sehr behutsam vor.»

Die Logopädin tauscht ihren Eiswürfel gegen einen Holzstab aus, den sie seitlich an Davids Zunge hält. «Probieren Sie, ihn zu schieben!» Der Freiburger konzentriert sich und versucht es, leider ohne Erfolg. «Aber etwas ist neu: Ich fühle eine Art Stechen», merkt er an. «Genial!», freut sich Victorine. Im Rahmen dieser täglichen Therapiesitzungen lernt David nicht nur, alle Teile seines Mundes, die am Schluckvorgang beteiligt sind, wieder zu spüren und zu koordinieren, Victorine hat auch die «Möglichkeit, Informationen zu sammeln, die für die Therapie von Bedeutung sind.» Und das immer im Tempo des Patienten, niemals unter Schmerzen.

Kreativität ist gefragt

Wie alle Mitglieder des Logopädieteams der Klinik arbeitet auch Victorine eng mit der Ernährungsberatung zusammen, wenn sie Patienten mit Dysphagie betreut. «Bei diesen Patienten ist natürlich aufgrund ihrer Schluckstörungen das Risiko einer Unterernährung gross. Sie essen weniger und können ihren Tagesbedarf nicht decken», erwähnt Avila Yusleydis, Ernährungsberaterin in der Berner Klinik Montana. «Bei Patienten, die wenig mobil sind, steigt das Risiko zusätzlich, da der Appetit tendenziell abnimmt, je weniger Bewegung vorhanden ist…»

Eine bei der Ankunft der Patienten erstellte Anamnese ermöglicht die Bewertung der Lebenssituation. «Wenn es sich um Personen handelt, die vor ihrem Unfall oder ihrer Krankheit gesund und aktiv waren, dann ist das Risiko für Unterernährung noch grösser.» Die Ernährungsberaterin erklärt, dass der Körper bei Proteinmangel «diese fehlenden Eiweisse aus der Muskelmasse zieht. Wenn die Muskelmasse schwindet, dann muss schnell etwas getan werden.» Beispielsweise durch die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln in Form von Tabletten, Puder oder Flüssigkeiten. «Auch hier muss man kreativ sein und sich an die Möglichkeiten des jeweiligen Patienten genauso anpassen wie an seine Vorlieben, beispielsweise mit leckeren und zugleich besonders nahrhaften Frappés.»

«Man muss kreativ sein und sich an die Möglichkeiten des jeweiligen Patienten genauso anpassen wie an seine ­Vorlieben, beispiels­weise mit leckeren und zugleich besonders nahrhaften Frappés.»

Avila Yusleydis, Ernährungsberaterin in der Berner Klinik Montana

Ein Viertel der Portion

Nasogastrale (PRG) oder perkutan-endoskopische Gastrostomie-Sonden (PEG) sind wichtige Mittel zur Vermeidung einer Unterernährung. Sie können als zentrale Ernährungsquelle oder ergänzend verwendet werden. Momentan kann David Chardonnens nur ein Viertel der für einen erwachsenen Mann angemessenen Kalorienmenge über den Mund aufnehmen. Nachts übernimmt seine PEG-Sonde. «Aber langfristig ist die Sonde keine Lösung, denn sie muss gewartet werden und es besteht ein Infektionsrisiko. Die Anleitung hin zu einer oralen Essensaufnahme ist und bleibt das zentrale Ziel», so Avila Yusleydis.

Wie in allen anderen Bereichen der Rehabilitation geht es auch bei der Behandlung von Dysphagie um eine maximale Autonomisierung des Patienten, damit er auch zuhause zurechtkommt. «Bei der Anamnese sprechen wir über das soziale Umfeld, über Personen und Infrastrukturen, die den Patienten nach der Rückkehr in das gewohnte Umfeld helfen können. Entsprechend passen wir unsere Tipps an», ergänzt die Ernährungsberaterin. «Wenn die Patienten nicht in der Lage sind, stückige Nahrung zu sich zu nehmen, dann erklären wir ihnen, wie man pürierte Gerichte zubereitet. Ausserdem stellen wir einen Ernährungsleitfaden zusammen, an dem sie sich orientieren können, einige Rezepte, die auf ihren Ernährungsvorlieben basieren und die sie nachkochen und anpassen können.»

Maximale Konzentration

David hat nur noch knapp eine Woche in der Klinik, zeigt sich jedoch selbstbewusst: Die Tipps und Empfehlungen, die er während seines Aufenthalts hier bekommen hat – sowohl in Bezug auf die Wartung und Pflege seiner Sonde als auch hinsichtlich der Zubereitung seiner Mahlzeiten und der Haltung, die er beim Essen einnehmen sollte – ermöglichen es ihm, seine Rückkehr in das gewohnte Leben gelassen anzugehen. «Für mich hat es Klick gemacht, als ich wieder ohne Überwachung essen konnte. Da wusste ich, dass es nicht mehr so lange dauern wird, bis ich wieder nach Hause kann.»

Tatsächlich ist die Frage der Sicherheit auch einer der zentralen Punkte bei der Rehabilitation von Patienten mit Schluckstörungen. «Leider besteht ein sehr reales Erstickungsrisiko», so Alana Queiroz. Die Pflegefachfrau erklärt, dass es unterschiedliche Überwachungsniveaus für Personen mit einer Dysphagie gibt. «In den schwersten Fällen muss eine Mitarbeitende während der gesamten Mahlzeit anwesend sein.» Manchmal müssen die Pflegerinnen beim Husten helfen. «Bei Verschlucken können die Pflegerinnen eingreifen und den Heimlich-Griff anwenden.» Dadurch, dass eine Pflegerin während den Mahlzeiten anwesend ist, können sie den Patienten auch die Vorgaben der Logopäden in Erinnerung rufen und Tipps in Bezug auf das Verhalten geben: «Langsamer essen, die unterschiedlichen Gerichte in der richtigen Reihenfolge zu sich nehmen, den Oberkörper aufrichten usw.» Eines der Ziele beim Essen auf der Etage ist es, «zu vermeiden, dass die Patienten sich nicht konzentrieren können», fährt Alana Queiroz fort. «In bestimmten Fällen raten wir den Patienten, mit Blick zum Fenster zu essen, um sicherzustellen, dass sie sich wirklich 100 % auf sich selbst konzentrieren.»

Die Arbeit mit Patienten, die Schluckstörungen haben, stellt für die Pflege eine doppelte Herausforderung dar. Erstens ist da die logistische Herausforderung. Eine Pflegekraft muss während der gesamten Mahlzeit anwesend sein. Zweitens gibt es die mentale Herausforderung: Sie muss den Stress im Zusammenhang mit der Erstickungsgefahr unter Kontrolle halten. Und nicht zu vergessen: «Wir sind für die Kommunikation mit den Familien zuständig, z. B. bitten wir sie, nichts zum Knabbern für diese Patienten mitzubringen». Zum Glück «sind wir ein eingefleischtes Team und können uns auf die Erfahrung der anderen Spezialisten in der Behandlung wie Köche, Logopädinnen, Ernährungsberaterinnen oder Ergotherapeuten verlassen.»

Gambas auf dem Menu

David hat sein Ziel noch nicht erreicht: eine Mahlzeit im Restaurant im Erdgeschoss, gemeinsam mit anderen. Doch das hält ihn nicht davon ab, positiv in die Zukunft zu blicken. Am Ende des Nachmittags sitzt er mit einem Kaffee auf der Terrasse der Klinik und schaut auf die beeindruckenden 4000er-Gipfel. Er denkt an seine baldige Rückkehr in seine Wohnung. «Ich freue mich darauf, bald Gambas mit Knoblauch geniessen zu können, auch wenn sie püriert sind», sagt er. «Mittelfristig träume ich davon, wieder ein Lebensmittel in die Hand zu nehmen, es an den Mund zu führen und hinneinzubeissen.» Ob dieser Traum Wirklichkeit wird? «Das hängt davon ab, ob ich eine Zahnprothese bekomme oder nicht.» Er schweigt einen Moment und taucht seinen Finger in den Kaffee und anschliessend den Strohhalm.

Fotos: Carolina Piasecki, blende.ch

Dr. Igor Leuchter, Privatdozent an der ­Medizinischen Fakultät von Genf, ist Leiter der Phoniatrie-Abteilung im Universitätsspital Genf (HUG).

Expertenmeinung:

Multidisziplinarität … und Genuss!


Schluckstörungen wie Dysphagie sind meist eines der Symptome, die im Allgemeinen mit anderen Erkrankungen einhergehen. Man geht davon aus, dass etwa 40 bis 70% der Neurologiepatienten mehr oder weniger stark betroffen sind. Diese hohe Verbreitung erklärt sich dadurch, dass Schlucken ein Ablauf von sehr schnellen Bewegungen ist, die einer grossen Koordination bedürfen. Zudem betrifft dieses Problem eher ältere Patienten als solche mittleren Alters. Eine Schluckstörung kann der Grund für eine starke Gewichtsabnahme sein. Dann empfiehlt sich eine Sondenernährung. Zudem kann Dysphagie während der Mahlzeit ein Erstickungsrisiko mit sich bringen, weshalb mehr Aufmerksamkeit gefragt ist. Diese Situation ist eine Stressquelle für alle Beteiligten. Eine weitere Besonderheit bei Schluckstörungen: Sie haben einen direkten Einfluss auf den Genuss. Das ist eine wichtige Information im Rahmen einer ganzheitlichen Therapie für die Patienten.

Das erklärt auch, warum Dysphagie multidisziplinär behandelt wird. Der Phoniater (ein HNO-Facharzt, der spezialisiert ist auf Probleme mit der Stimme und beim Schlucken) arbeitet eng mit den Logopädinnen, den Ernährungsberaterinnen und dem Pflegepersonal und natürlich mit der betroffenen Person zusammen. Einer der grossen Vorteile eines Aufenthalts in einer Rehabilitationsklinik wie der Berner Klinik Montana ist, dass sich hier die unterschiedlichen Abteilungen koordinieren. Die Patienten profitieren somit auch von wesentlich intensiveren Therapien als dies bei einer ambulanten Behandlung der Fall wäre und verzeichnen schneller Fortschritte. Und nicht zu vergessen, die massgeschneiderten, sicheren Mahlzeiten und die Ernährungsberatung. Sobald diese Personen wieder zuhause sind, besteht die Herausforderung in einer weiterhin ausgewogenen Ernährung.