Zwei Schicksale, ein Leben

Sie teilen ihren Alltag, ihre Krankheit und auch ihr Zimmer in der Berner Klinik Montana. Ein kurzer Besuch bei Michèle Déforel und Daniel Schwab.

Es ist ihr Wunder von Lourdes. 2002 treffen sich Michèle Déforel und Da- niel Schwab am berühmten Pilgerort in Südfrankreich. Sie reist jedes Jahr dorthin, er ist beruflich in Lourdes. Er wärmt ihr die Füsse. Sie lernen sich kennen und verlieben sich. Heute sind sie ein Paar und leben gemeinsam. Doch Michèle Déforel und Daniel Schwab verbindet mehr. Bereits damals in Lourdes haben beide seit mehreren Jahren Multiple Sklerose (MS). Fortan leben beide gemeinsam – und mit MS. Zu diesem Leben gehört auch der Auf- enthalt in der Berner Klinik, in der Michèle Déforel und Daniel Schwab zu Gast sind, im selben Zimmer, so wie jedes Jahr. Eine stille Vertrautheit liegt zwischen ihnen, wenn sie in ihrem Zimmer im dritten Stock sitzen und ihre Geschichte erzählen.

Ein Schock und ein normales Leben

Daniel Schwab setzt sich schon länger mit der Krankheit auseinander. Seit zwei Jahren bezieht er eine IV-Rente. Er, der lange als Journalist für das «Radio Télé- vision Suisse romande» gearbeitet hat, bezeichnet dies als die beste Lösung. «Es ging einfach nicht mehr», sagt er rückblickend, da er am Ende nicht ein- mal mehr die Korrespondenz bewältigen konnte. Seinen ersten Schub hat er 1975 in der Rekrutenschule. Damals schickt sein Hausarzt einen Brief, in dem die Worte «Verdacht auf Multiple Sklerose» stehen. «Das zu lesen, war ein Schock» erinnert sich Daniel Schwab. Er weiss bereits, was MS bedeuten kann, denn der Vater eines Freundes lebt mit der Diagnose. 1988 erst wird sie auch bei ihm eindeutig gestellt, dank dem MRI. Die ersten Jahre nach der Diagnose verfolgt er noch ein normales Leben. Er gründet eine Familie, hat drei Kinder. Drei Jahre später jedoch kommt der grosse Schub, der Daniel Schwabs Krankheit wirklich sichtbar macht. Für ihn ist klar: «Von da an ging es leider abwärts.»

Der Tag der Entscheidung

Als Schock, wenn auch als kleinen, bezeichnet auch Michèle Déforel ihre MS-Diagnose. Damals, 1993, fühlt sie sich schon länger müde, zieht beim Laufen einen Fuss hinterher. Ihre Physiotherapeutin schickt sie zum Neurolo- gen. Der diagnostiziert MS. Lange noch arbeitet Michèle Déforel bei der Post, soweit es ihre Krankheit erlaubt. Sie nimmt die Frühschichten, da sie morgens fitter ist als am Nachmittag, und hat keinen direkten Kundenkontakt. Dann, 2003, steht eine Reorganisation ihrer Poststelle an. «Ich erinnere mich noch an den Tag. Ich erhielt Besuch von zwei Personen: eine vom Sozialdienst, die andere vom HR.» Sie diskutieren ver- schiedene Varianten mit Michèle Déforel, doch die entscheidet sich schnell: Im Frühling legt sie ihre Arbeit nieder. Die Entscheidung macht damals für sie Sinn. Heute lebt sie mit Daniel Schwab in einer gemeinsamen Wohnung in Biel. Beide leben mit MS, gemeinsam und doch jeder auf seine Weise.


Die Erhaltung der Bewegungsfähigkeit gehört zu den Zielen der Rehabilitation von Menschen mit MS. Dieses Ziel verfolgen die Spezialisten der Berner Klinik mit aktiven und passiven Therapien.

Der «grosse Service»

Seit seinem grossen Schub von 1991 kommt Daniel Schwab jährlich in die Berner Klinik Montana. «Es ist wie bei einem Auto: Einmal im Jahr kommt der Service», sagt er und schmunzelt dabei. Dabei ist nicht sicher, wie oft er diesen «Service» noch wird machen können. Mit zunehmender Krankheit wird sein Reha-Potenzial, also der Nutzen einer Rehabilitation, geringer. «Doch das gehört zur Entwicklung der Krankheit», bemerkt Daniel Schwab nüchtern. Auch zur Entwicklung von MS gehört, dass sie nicht immer gleich schnell verläuft. «Als ich Michèle kennengelernt habe, war ich besser ‹zwäg› als sie. Jetzt ist es umgekehrt.» Michèle Déforel ist 2001 zum ersten Mal in der Berner Klinik. Hier lernt sie den Umgang mit dem Rollstuhl, den sie zuerst nur als Hilfsmittel nutzt, später zur Fortbewegung im Alltag. Die Aufenthalte in der Klinik helfen beiden; der Effekt sei jedes Mal zu sehen. Auch der globale Ansatz sei wichtig, meint Daniel Schwab: «Die Experten reden hier miteinander. Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto wichtiger wird das.»

Zu zweit am Kipptisch

Eine halbe Stunde später lässt sich Daniel Schwab aus dem Rollstuhl helfen. Er ist alleine mit Physiotherapeutin Céline Huet-Anckly im grossen Physiotherapieraum auf dem dritten Stock. Ein leichter Wind weht durchs offene Fenster, Céline legt ihrem Patienten die Gurte an. «Kipptisch» lautet die Übung, bei welcher der Patient langsam in die Senkrechte gebracht wird – eine Position, die Menschen mit fortgeschrittener MS selber nicht mehr einnehmen können. Die Gurte verhindern dabei das Umkippen. «Geht es mit den Spasmen?», fragt Céline und muss alle Kraft aufbringen, um Daniel Schwabs Beine zu mobilisieren. Das Problem sei nicht das Gewicht des Patienten, sondern die Steifigkeit, meint sie. Man müsse sich Zeit für jede Bewegung nehmen, um keine Krämpfe auszulösen. Daniel Schwab folgt den Bewegungen konzentriert. «Sie arbeitet aber auch sehr sanft», be- merkt er. Die Therapie für MS-Patienten ist sowohl passiv als auch aktiv, erklärt Céline: «Wir müssen alle Bewegungen trainieren, die möglich sind.» Nur so könne die Bewegungsfähigkeit so lange wie möglich erhalten bleiben.

Rumpfbeugen und Schoggimousse

Langsam richtet Céline den Kipptisch auf. Sie beginnt, Daniel Schwabs Arme zu mobilisieren. Er drückt, sie hält da- gegen. Der Patient und seine Therapeutin brauchen nur wenige Worte, um sich zu verständigen. Kein Wunder: Céline betreut Daniel Schwab schon seit 13 Jahren. Das verbindet. Aber sie weiss: «Bei Patienten mit chronischen Krankheiten sehen wir über die Jahre nie eine Besserung.» – «Leider», setzt Daniel Schwab nach. Vieles hat sich in seinem Leben verändert. Während Jahren ist er im Vorstand der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft tätig gewesen. Am Schluss hat er sein Amt abgegeben, da er nicht mehr in der Lage war, es auszuüben. Ob er deswegen die Motivation verliere? «Nein, es wird nur alles schwieriger», sagt er knapp. Die Muskeln seien einfach nicht mehr vorhanden. Er beugt den Kopf langsam nach vorne. «Für Herrn Schwab ist das so anstrengend wie Rumpfbeugen», erklärt Céline. Daniel Schwab nimmt es mit Humor. Andere hätten einen Bauch wie eine Schokoladentafel. «Bei mir sei es Schoggimousse. Das hat meine Tochter einmal gesagt.» Er lacht kurz und spannt sofort die Muskeln wieder an.

Ziele und Motivation

Zur selben Zeit sitzt Michèle Déforel im Armeo-Raum und trainiert mit dem gleichnamigen Armroboter. «Neben dem Training amüsiert man sich auch noch», sagt sie, während sie in einer Simulation am Bildschirm Ballons fängt und dabei Bomben ausweicht. Sie mag das Spielerische am Training mit dem Armeo. Kraft und Koordination stehen im Fokus. Auch zu Hause trainiert sie ihre Fingerfertigkeit auf dem Tablet; auf Anraten ihrer Therapeutin hat sie sich eine Klavier-App installiert. Die Motivation hat auch Michèle Déforel nie verloren – ganz im Gegenteil. Sie setzt sich vor jedem Aufenthalt selber Ziele. Dieses Mal sind es drei: Sie möchte besser mit Stöcken laufen, nach einem Sturz wieder aufstehen und eigenständig das Bett verlassen können. Das erste Ziel hat sie schon fast erreicht – vor einer Woche ist sie mithilfe des «Vectors» (s. Artikel im Rehavita 01/16) an einem Stock gelaufen. Vom Ergebnis ist Michèle Déforel begeistert: «So etwas kann ich zu Hause nicht mehr. Dort bewege ich mich per Rollator.» Ein fernes Ziel hat sie noch: Sie möchte wieder Ferien in Teneriffa machen. So wie früher. Doch dafür muss Michèle Déforel Ziel Nummer drei erreichen: eigenständig das Bett verlassen.

Das alte und das neue Leben

Den Effekt der Therapien zu sehen, das macht für Michèle Déforel den Mehrwert ihres Aufenthalts in Montana aus. Schon nach drei Tagen stellen sich erste Fortschritte ein. Auch beim Training mit dem Armeo ist es so: Vier von fünf Sternen hat sie in der letzten Übung erreicht, einen mehr als in der Sitzung zuvor. Bei allen Fortschritten in der Therapie: Denkt sie da auch ab und zu an alte Zeiten? «Ich denke nicht immer an früher. Nur manchmal, zum Beispiel wenn ich zu Hause an etwas nicht herankomme, das früher leicht erreichbar war.» Ein paar Meter würden eben einen grossen Unterschied machen. Jetzt habe sie eine Haushaltshilfe, die ihr und Daniel Schwab den Alltag erleichtert. «Manchmal wärmen wir noch selber Mahlzeiten auf», sagt sie. «So wie früher – vor allem am Wochenende.» Wie ist es überhaupt, mit einem Partner zu leben, der die gleiche Krankheit hat, wie man selbst? Michèle Déforel überlegt. «Ja, es helfe sicher, ein gegenseitiges Verständnis herzustellen». Und ausserdem brauchen sie und ihr Partner vor allem eines: viel Zeit. Das bringe die MS mit sich. Und von dieser Zeit hat man mehr, wenn man sie gemeinsam verbringt, auch in der Rehabilitation. «Hier zu sein, ist für mich ein Privileg», fasst sie zusammen.

Gemeinsame Geschichten

Ob sie den Aufenthalt in Montana nun als Privileg oder als «grossen Service» betrachten – Michèle Déforel und ­Daniel Schwab verfolgen ihr gemeinsames Leben weiter. Und sie nehmen auch manchen Zwischenfall mit Humor. So wie damals, als sie sich gemeinsam in ihr erstes umgebautes Auto begeben haben. Zwei grosse Rollstühle – Seite an Seite – haben einfach nicht in die Kabine gepasst. Am Schluss hat sie die Feuerwehr freigeschnitten. Solche Geschichten erzählen die zwei ab und zu, wenn sie nicht ihrem gemeinsamen Alltag nachgehen. Zu zweit, in stiller Vertrautheit.