Schritt für Schritt

Laufen ist eine Selbstverständlichkeit. Doch was, wenn es wieder erlernt werden muss? Zwei Beispiele zeigen, wie diese Herausforderung in der Berner Klinik Montana gemeistert wird.

Andrea Berchtold meint es ernst mit ihrer Patientin: «Wir müssen ein bisschen bremsen.» Denn Bethli Kernen läuft heute schneller als sonst. Langsam setzt sie einen Fuss vor den anderen, die Hände fest am Rollator. Bethli Kernen ist seit sechs Wochen in der Berner Klinik Montana. Nach mehreren Operationen an der Wirbelsäule, bei denen einzelne Segmente sukzessive versteift wurden, hat ihre Gehfähigkeit immer mehr abgenommen. Nun läuft sie langsam durch den Gang im ersten Stock, aufmerksam beobachtet von Physiotherapeutin Andrea. Frau Kernen ist motiviert und zeigt täglich neuen Tatendrang. «Ich möchte bald nach Hause», sagt sie. Ihr Daheim ist ein Haus in der Lenk, das sie damals mit ihrem Mann aufgebaut hat. Doch bis es so weit ist, hat Bethli Kernen noch ein Stück Arbeit vor sich. Zunächst gibt ihr Andrea aber eine Verschnaufpause: «Die Beine brauchen wir später noch.»

Qualität vor Quantität

Die nächste Patientin wartet bereits: Annina-Francescina Amleto Bianco ist erst seit einer Woche in der Klinik. Grund für den Aufenthalt ist ein Sturz auf der Treppe, bei dem sie sich eine Schambeinastfraktur zugezogen hat. Beim Eintritt in die Klinik war an Laufen nicht zu denken. Doch heute gehe es ausgezeichnet, sagt sie. Andrea begleitet ihre Patientin zur Treppe, wo sie das Stufengehen an Stöcken üben. Nach einigen Auf- und Abstiegen beendet Andrea die aktive Therapieeinheit und geht zur Behandlung der Weichteile über. «Qualität kommt vor Quantität», erklärt Andrea. Es gehe nicht darum, dass eine Patientin oder ein Patient eine Übung möglichst lang mache, sondern lange genug, um die trainierte Bewegung kontrolliert ausführen zu können. Ihre drei Wochen Aufenthalt in Montana geniesst Frau Amleto Bianco: «Ich liebe die Berge.» Sie hat schon erste Schritte ausserhalb der Klinik unternommen. Überhaupt, die Berge: Die erinnern sie an ihre alte Heimat Kalabrien.

Auch Alltagshandlungen wie Treppensteigen gehören zur Therapie. Schliesslich ist die Rückkehr in den Alltag das Ziel – auch von Annina-Francescina Amleto Bianco [r].

Die Freiheit erarbeiten

Auch Physiotherapeutin Andrea kennt den Wert der Landschaft in Montana. In einer anderen Umgebung als zu Hause blühen viele auf. Den grössten Mehrwert bietet die Berner Klinik Montana ihren Patientinnen und Patienten jedoch im Haus. Unzählige Hilfsmittel und Therapiemöglichkeiten sowie therapeutische Bäder dienen dem Training des Bewegungsapparates. Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung ist für Andrea der Weg in die Rehabilitation klar gewesen: «Als Therapeutin kann ich mich hier ausleben.» Und natürlich sei es eine sehr persönliche Angelegenheit, jemandem das Laufen wieder beizubringen. Denn «Laufen bedeutet Unabhängigkeit», so Andrea. Diese Unabhängigkeit müsse aber oft langsam erarbeitet werden. Zeit sei deshalb ein wichtiger Faktor in der Reha. Fortschritte seien manchmal langsamer zu beobachten als gewünscht. Da müsse man flexibel bleiben.

Wie von Zauberhand

«Hält alles?» Andrea kontrolliert die Gurte. Bethli Kernens zweite Therapieeinheit an diesem Tag findet im grossen Saal statt. Oben an der Decke hängt der «Vector», ein neues Therapiegerät der Berner Klinik Montana und das erste seiner Art in der Schweiz. Die Patientin wird durch ein Seil gesichert und ist so vor Stürzen geschützt. «Beim ersten Mal habe ich gedacht, die hängen mich auf», erinnert sich Bethli Kernen. Nach vier Behandlungen hat sie sich aber an das Gerät gewöhnt: «Man muss sich konzentrieren. Aber dann ist es wie laufen.» Langsam läuft Bethli Kernen vorwärts, nur gestützt auf ihre Stöcke. Andrea geht nebenher, die Hand an der Fernbedienung, um im Notfall einzugreifen. Doch das muss sie nicht. Der Vector folgt dem Gang von Bethli Kernen eigenständig, bereit Stürze abzufangen. Auch wenn die Unterstützung durch die Technik gross ist, wäre ein solches Training vor ein paar Wochen für Bethli Kernen noch undenkbar gewesen. Ist sie stolz auf diesen Verlauf? Sie relativiert: «Das sagen meine Kinder immer, wenn sie mich besuchen. Aber ich will es noch besser können.»

Der «Vector» schützt vor Stürzen bei der Therapie. So können Patientinnen wie Bethli Kernen [r.] schon früh im Therapieverlauf freie Gehtrainings absolvieren.
Das «Alter-G»-Laufband vereinfacht das Gehen, indem es die Schwerkraft vermindert – ideal für Patientinnen und Patienten, die nur unter Schmerzen gehen können.

Auf dem Mond

Eine halbe Stunde später und einen Stock tiefer steht Annina-Francescina Amleto Bianco im Trainingsraum und zieht eine kurze Neoprenhose an. Sie lächelt verschmitzt. «Jetzt gehen wir auf den Mond.» Die Rede ist vom Alter-G, einem Gerät, das durch Luftdruck das eigene Körpergewicht reduziert – ähnlich einem Mondspaziergang. Die Neoprenhose verbindet Frau Amleto Bianco mit dem Gerät, sodass die Luftkammer dicht bleibt. Frau Amleto Bianco läuft los. Andrea erklärt ihr, mit welchen Knöpfen Geschwindigkeit und Neigung eingestellt werden. «Ich lasse die Patienten gerne mitentscheiden.» So würden diese besser auf ihren Körper hören und die Verantwortung für die Therapie mittragen. Frau Amleto Bianco ist sichtlich begeistert: «Das ist ein unglaubliches Gefühl.» Ihren Kindern habe sie gesagt, sie bräuchten sie nicht zu besuchen – es gehe ihr ausgezeichnet hier. Vor allem das Personal sei so: Ihre Hand formt das Zeichen für «grandios».

Eine dankbare Aufgabe

Im Foyer sitzt Bethli Kernen beim Kaffee. Als Andrea kurz dazustösst, sagt sie scherzhaft: «Zuerst dachte ich, sie ist Ingenieurin.» Ja, die Technik mache die Reha auch für Therapeuten immer anspruchsvoller, bestätigt Andrea. «Doch sie hilft den Patienten auch schneller auf die Beine.» Schliesslich kämen diese mit immer komplexeren Fällen in die Reha. Und letztendlich sei es eine unglaublich dankbare Erfahrung, wenn jemand nach erfolgreicher Therapie wieder gehen könne. Dieses Ziel gelte auch für Frau Kernen, so Andrea: «Wenn sie unsere Klinik verlässt, soll sie selber durch die Tür laufen.»