Klinikalltag mit Lean Management

In einer einjährigen Pilotphase hat die Berner Klinik Montana auf Lean Management umgestellt. Der Patient kommt jetzt immer an oberster Stelle – er bestimmt den Tagesablauf, das Team, die allgemeine Zufriedenheit. Zeit für eine Bilanz.

Dienstag, Punkt 8.00 Uhr: Im Stationszimmer 4 drängen sich Ärzte, Therapeuten, Pflegekräfte und Auszubildende um ein riesiges Board mit Smileys, farbigen Pins und vielen Ziffern. 8 Uhr ist Huddle-Zeit. Der «Huddle», frei übersetzt «wirrer Haufen», ist das wichtigste Werkzeug im Lean Management. Es betitelt zum einen das 2×2 Meter grosse Board: Darauf bedeutet «0-0-0», dass der Patient immer im Restaurant isst. N1, N2 und N3 markieren seinen Pflegegrad. Weitere Angaben zeigen die Auslastung der Station, anstehende Aufnahmen, Entlassungen. Ein grüner Pin bedeutet eine Schluckstörung, ein roter Pin besagt, dass es nähere Informationen beim nächsten Huddle gibt. Ein Huddle dauert theoretisch sieben Minuten. Ein Zeitfenster, in dem die Probleme der Patienten besprochen werden. Im Stationszimmer 4 ist man heute um 8.02 Uhr fertig. Besprechungen mit 15 Leuten haben schon einmal länger gedauert.

Emoticons von «laughing» bis «angry»

Auf dem Huddle-Board des Stationszimmers 4 gibt es drei lachende Smileys, aber auch vier, die vor Wut rot angelaufen sind. «Was gibt es für ein Problem?» fragt Chefarzt Dr. Adolphsen in die Runde. Die Smileys symbolisieren die Mitarbeiterzufriedenheit. «Zu viele N3-Patienten, zu wenig Personal» antwortet Chantal Ecoffey, seit zwei Jahren Pflegefachfrau in der Berner Klinik Montana. Adolphsen überlegt. «Dann gehen jetzt alle neuen N3-Patienten auf Station 3, wir möchten keinen schwarzen Pin riskieren.» Ein schwarzer Pin ist der Schwarze Peter des Huddles. Er signalisiert: Ein Patient ist unzufrieden. Chantal Ecoffey nickt Adolphsen wertschätzend zu. Seine direkte Lösung bedeutet für sie heute mindestens ein Problem weniger.

Ecoffey hat genau ein Jahr konventionellen Klinikalltag und ein Jahr Lean Management miterlebt. In Lean sieht sie klare Vorteile. «Früher habe ich den Pflegenachtdienst abgelöst und mir häufig Probleme angehört. Ist ja klar, denn abends sammeln sich Sorgen.» Und am nächsten Tag? «Passierte erstmal nichts. Bis ich mit einem Arzt oder Therapeuten sprechen konnte, war es teilweise 11.30 Uhr. Knapp vier weitere Stunden also mit einem unzufriedenen Patienten. Heute teile ich aufgekommene Sorgen direkt mit dem ganzen Team. Und wir finden sofort Lösungen.»

Ein logischer Kreislauf

Keine angestauten Probleme, direktere Kommunikation, unmittelbare Lösungen: Das ist Lean Management. Dass es heute keine Ausreden mehr gibt, das sei ihr besonders wichtig, sagt Chantal Ecoffey. «Wenn mein Chef Notiz von meiner Unzufriedenheit nimmt und im Anschluss handelt: Das tut sehr gut. Das bedeutet für mich bis in die Chefetage sichtbar zu sein.» Gut tue auch, dass beim Huddle jeder zu Wort kommen kann. Aussergewöhnlich ist, dass jeder weiss, wann er das kann, wie lange, warum und wozu. Christiane Haushalter, seit 17 Jahren Pflegedienstleiterin, sagt, dass sei in der Pilotphase teilweise noch chaotisch gewesen. Der Huddle sei eben nicht der Ort für Probleme wie «Mein Kollege hat mich gestern nicht gegrüsst» oder ähnliches. Ein Smiley spiegelt immer die erbrachte Leistung am Patienten. «Früher hat man beispielsweise Patienten entlassen und dann Bewertungsbögen geschickt», so Haushalter. «Aber was macht man dann aus der Ferne, wenn Patienten schlechte Bewertungen zurückschicken?» Kommunikation vor Ort, das sei der Schlüssel zu erfolgreichem Lean.

Auch Christiane Haushalter sieht viele Mehrwerte im neuen System. Alle zwei Stunden sei die Pflege beim Patient. Auf Station 3 sind sechs Fachkräfte für aktuell 21 Patienten zuständig. Nach dem Mittag sind es drei für 21. Pro Patient liegt der Pflegeaufwand aber zwischen einer und vier Stunden. Durch Lean habe man jetzt mehr Zeit zum Pflegen und vor allem zum Zuhören. Über diesen Zeitgewinn freut sich Chantal Ecoffey jeden Tag.

Alle Blicke Richtung Board: Der morgendliche Huddle ist der gemeinsame Start in den Tag.

Olivier Curty ist ein zufriedener Patient

Er hat einen niedrigen Pflegeanspruch und seine Mahlzeiten nimmt er im Restaurant ein. Seit seinem 30. Lebensjahr ist er 21-mal in der Berner Klinik Montana gewesen und hat einen straffen Tagesplan. Durch Zuhören erfährt man von der Espresso-Leidenschaft des 54-Jährigen, dass er kein Kostverächter ist und mit Herzblut Alte Geschichte an der Uni Fribourg doziert. Olivier Curty trägt ausserdem immer ein Buch bei sich. «Häufig wissenschaftlich, ab und zu Belletristik», erzählt er zwischen Fango und Logopädie bei einem Espresso. «Wissen Sie, meine Studenten mögen meine Kurse, weil sie keine Eile haben mit Abgaben. Ich brauche schliesslich auch ewig zum Korrigieren.» lacht er.

Für Olivier Curty sind Aufenthalte in Montana Auszeit gemischt mit Arbeit. Abends, wenn seine Therapien beendet sind, korrigiert er gerne Hausarbeiten oder liest neueste Forschungstexte. «Ich denke häufig sind Patienten unzufrieden, weil zu viele annehmen, ah ja, Klinik, jetzt mach ich hier mal ein bisschen Ferien. Das ist aber Arbeit hier. Und das ist auch gut so.» Er merke aber neuerdings auch, dass Genörgel und Sorgen bei seinen Patientenkollegen in Montana tendenziell abnehmen. Ihm selbst liegt das Beschweren nicht. Dafür gäbe es zu viele schöne Dinge im Leben. Lediglich der Wochenplan hat ihm früher besser gefallen als der heutige Tagesplan. «Da konnte man Apéro-Termine noch besser im Voraus planen.»

Olivier Curty in der offenen Sprechstunde: Zuhören und direkt Lösungen finden.

Apérozeit statt Sorgenstunde

Chefarzt Dr. Adolphsen sagt über Olivier Curty, er sei nie genervt. «Sie machen immer eine gute Stimmung.», betont er bei der Visite, die einmal in der Woche als offene Sprechstunde stattfindet. «Ob er was auf dem Herzen habe?», fragt er ihn. «Nein, Sie vielleicht?», spielt Curty den Ball zurück. Adolphsen schüttelt den Kopf und lacht. Im späteren Gespräch schildert er seine Zufriedenheit mit Lean. «Ich bin näher an den Patienten und an Kollegen dran.» Und die kürzeren Kommunikationswege seien gedankliche Türöffner: «Viele meiner Arztkollegen sind diskussionsbereiter, man kommt schneller ins Gespräch. Das geniesse ich.» Schmunzelnd berichtet er aber, dass er nicht alles ändern möchte. Ärzte sollten beispielsweise weiterhin einen weissen Kittel tragen. Dass er heute keinen anhatte, sei dem Fototermin geschuldet.

Was Olivier Curty heute Abend noch macht? «Ich breche aus», freut er sich. «Nein, ich treffe Freunde in der Stadt. Der Pflegeschicht hat er abends nichts zu berichten. Seinen Tagesplan hat er erfüllt und ist, wie so oft, ein zufriedener Mensch. Das Tagesziel für das Team der Berner Klinik unter Lean wäre bei Olivier Curty erreicht: Kein schwarzer Punkt für das Huddle-Board. Stattdessen ein 15-köpfiges Team, das beruhigt und motiviert in einen neuen Tag starten wird.

Der Patient kommt zuerst. Aber auch die Mitarbeiter profitieren.

Lean bedeutet in der Theorie eine höhere Effizienz in Arbeitsabläufen, mehr Sicherheit in der Behandlung, motiviertere Mitarbeiter und eine bessere Wirtschaftlichkeit. Erreicht werden alle Ziele über eine Verschlankung der Arbeitsprozesse. Ist der Arbeitsprozess schlanker, hat ein Mitarbeiter mehr Zeit für die Behandlung und ist zufriedener mit seiner Leistung. Und die dabei eingesparte Zeit zahlt auf die Wirtschaftlichkeit des Spitals ein.

Praktisch bedeutet Lean vor allem das Aufbrechen gewohnter Strukturen und die Sensibilisierung des Teams für Veränderung. Zuerst werden die Kommunikationswege von Pflege zu Therapie zu Ärzten und Patienten geprüft. Fokus ist dabei immer die Patientenzufriedenheit. Sie ist der Schlüssel zu weniger Stress für die Mitarbeiter. Denn statt viel Zeit für administrative Aufgaben zu verwenden, können Mitarbeiter diese in die Betreuung des Patienten legen. Und das gewährleistet sichere Medizin. Nach der Prüfung erfolgt die Umsetzung in verschiedenen Schritten. Der Tag beginnt mit so genannten «Huddles», bei denen sich in maximal zehn Minuten alle für den Patienten relevante Fachkräfte treffen, Probleme besprechen und Lösungen finden. Der Chefarzt ist so bereits am frühen Morgen mit im Boot, die Pflege kann Probleme aus der Nachtschicht unmittelbar an alle weitergeben und der Therapiebereich kann sein Programm anpassen oder ausbauen. Frust seitens des Patienten kann sich derart kaum anstauen, was das Stresslevel der Fachkräfte nachweislich reduziert und deren Zufriedenheit erhöht. Probleme werden mit Lean dort gelöst, wo sie entstehen und möglichst nahe am Patienten – direkt – behandelt.